Das Jahr 2002 hätte für Coldplay kaum besser beginnen können. Als ihr Debütalbum „Parachutes“ im Februar mit dem Grammy als „best alternative rock album“ ausgezeichnet wurde, ließen sich eigentlich erst die Dimensionen erkennen, die dieses über alle Maßen gelungene Erstlingswerk angenommen hatte. Immerhin war „Parachutes“ bereits im Sommer des Jahres 2000 erschienen, in der Zwischenzeit mit wahren Jubelarien geradezu überschüttet und neben etlichen anderen Preisen auch mit zwei Brit-Awards geehrt worden. Die junge britische Band, die einmal nicht zu Unrecht von sich behauptet hat, dass ihr Album viel berühmter sei als sie selbst, weil keiner wisse, wie sie aussehe, hat den Brit-Pop tatsächlich zu neuen internationalen Weihen geführt. Mollige Melancholie und schlichte Schönheit waren die Grundpfeiler ihres Albums, das sich weltweit über fünf Millionen mal verkaufte, ein Fünftel davon allein in den USA. Binnen weniger Monate avancierten Coldplay vom kleinen Club-Act zum Headliner großer Rockfestivals und hatten mit Songs wie „Yellow“ und „Shiver“ den klingenden Beweis angetreten, dass gegen den seelenlosen Trash, der ihres Erachtens nach die Charts bevölkert, doch ein Kraut gewachsen ist.
Auch mit „A Rush Of Blood To The Head“ lassen sie den Glamour des Popbusiness links liegen und wirken auf jedem einzelnen der elf neuen Songs hoch konzentriert. Aus jeder Zeile, jedem Refrain strahlt eine melodische Kraft, die tief ins Bewusstsein dringt. Die Ambition, ein großes Werk zu schaffen, ist fast physisch spürbar. Auf Songs wie „Daylight“ und „A Whisper“ klingen Coldplay dynamischer und fokussierter denn je, wobei besonders letztgenannter Song in seiner psychedelischen Rotation an Pink Floyd erinnert. Und das countryeske „Green Eyes“, die erste, glückselig frohlockende Single „In My Place“ sowie der fast schon anbetungswürdig kathartische Titelsong werden allein durch ihre unwiderstehlichen Melodien jedem Lebenskünstler das Herz bluten lassen. Coldplay haben sich die Messlatte denkbar hoch gelegt und schwingen sich mit gefühlsintensivsten Songs zu einem weiteren Höhenflug auf, der sie zu heißen Anwärtern auf das Album des Jahres macht. Die anstehenden Tourneen versprechen gigantisch zu werden. Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass alle vier Musiker dieses Quartetts noch in ihren frühen Zwanzigern stecken.
Chris Martin wuchs in Devon auf, Will Champion in Southampton, Guy Berryman in Schottland und Jonny Buckland in North Wales. Kennen gelernt haben sie sich auf dem University College direkt zu Beginn ihres Studiums Mitte der Neunziger, das sie mittlerweile absolviert haben. Auch das ein kleines Wunder, denn Archäologie, Astronomie, Mathematik und Geschichte sind wahrlich keine leichten Brocken, und die vier Musiker probten so gut wie jeden Abend. „Wir haben in Badezimmern gespielt, in irgendwelchen Kellern und sogar mitten im Park“, erinnert sich Chris lächelnd. Und Jonny ergänzt: „Wir waren von Beginn an zielstrebig und überzeugt, dass wir es irgendwie schaffen müssten.“ 1998 nahmen sie in einer kleinen Auflage von 500 Stück ihre erste EP mit vier Songs auf, die ihnen einen Gig bei einem Festival in Manchester einbrachte. Dort wurde Simon Williams vom Label Fierce Panda auf Coldplay aufmerksam, der mit „Brothers And Sisters“ eine weitere Single auf den Markt brachte, die schließlich zum Deal mit Parlophone führte.
Der Rest, so könnte man mal wieder sagen, ist Geschichte, eine Geschichte allerdings, deren Geschicke die Band möglichst selbst bestimmt. „Wir haben die hundertprozentige Kontrolle, was jeden Aspekt betrifft“, bestätigt Will. „Das ist wirklich wichtig für uns, für was wir stehen und für die Musik, die wir machen. Wir haben die Kontrolle über alle Aufnahmen, die Videos, das Artwork. Wir sind keine Band, über die man nach Belieben bestimmen kann, auch wenn wir ein paar großartige Berater haben.“ Trotz zahlreicher Anfragen haben es Coldplay bis heute stets abgelehnt, dass ihre Musik für Werbespots verwendet wird. Auch das ein Zeichen künstlerischer Integrität, in der das Selbstbewusstsein der vier Musiker zum Ausdruck kommt, die ihren ganzen Weltschmerz in ihre Songs packen.
Das neue Album „A Rush Of The Blood To The Head“ ist gerade deswegen so perfekt geworden, weil sich die Band nur mit dem absolut vollkommenen Ergebnis zufrieden gibt. Bereits im Oktober letzten Jahres hatte man mit den Aufnahmen begonnen, erneut mit Ken Nelson als Co-Produzenten und mit dem Toningenieur Mark Rhythain, der für alle Computer zuständig war. Um Weihnachten waren die Aufnahmen dann erst einmal abgeschlossen und alle schienen zufrieden – nur die Band nicht. „Es war dieses unbestimmte Gefühl, dass alles zu glatt gelaufen war“, erinnert sich Johnny. „Wir waren angetan, aber dann haben wir das aus der Distanz betrachtet und festgestellt, dass es irgendwie nicht stimmte. Es schien zu einfach zu sagen, wir haben genug erreicht und ein Album zu veröffentlichen, nur um dem Impuls zu folgen. Wir haben das nicht getan und darüber bin ich glücklich, weil wir jetzt etwas haben, mit dem ich zwei Jahre lang frohgemut auf Tour gehen kann.“
„Ich glaube, wir sind es ein bisschen zu routiniert angegangen“, pflichtet Chris bei. „Es war gut, aber eben nicht gut genug. Also sind wir nach Liverpool in jenes kleine Studio zurückgekehrt, wo auch ein Großteil unseres letzten Albums entstanden ist. Nur wir vier und Ken und Mark, eine kleine Gang. Songs wie ‚Daylight’, ‚A Whisper’ und ‚The Scientist’ entstanden in nur zwei Wochen und wir haben sie dann auch schnell fertig aufgenommen. Wir haben einige Male Ian McCulloch (Sänger von Echo & The Bunnymen, Anm.) getroffen und er sagte, versucht mal dies, versucht mal das. Brillant!“
Auch wenn jeder Song unverkennbar nach Coldplay klingt, ist das Album nun wesentlich abwechslungsreicher ausgefallen. Das liegt sicherlich auch an dem Selbstverständnis, mit dem eine in den siebten Himmel gelobte Band zu Werke gehen kann. „Das letzte Album hatte viel mit Angst zu tun, mit offensichtlicher Unsicherheit, jetzt ist das alles viel unterschwelliger“, stellt Chris fest. „Wir sind eben ein wenig erwachsener geworden, sind viel herum gekommen und haben unwahrscheinlich viele Menschen getroffen. Auch musikalisch haben wir uns mehr umgehört: die Bunnymen, Cure, PJ Harvey, Nick Cave, New Order. In den letzten zwei Jahren waren wir wie ein kultureller Schwamm. Wir haben alles aufgesogen und das kommt nun auf unserer neuen Scheibe zum Ausdruck. Viele Songs handeln vom Antrieb und Vertrauen im Angesicht von Sorgen und Unsicherheit.“
Und das versteht Chris Martin auch im globalen Sinn. Im Februar dieses Jahres reiste er im Auftrag von Oxfam nach Haiti und in die Dominikanische Republik, um dort die Kampagne zur Änderung der Welthandelsgesetze zu unterstützen. Es war ein äußerst strapaziöser Trip, der nach langen Fahrten über unbebaute Straßen zu Begegnungen mit der einfachen Landbevölkerung führte, die durch fallende Kaffeepreise und billigen Importreis aus den USA verarmt ist. Chris hat mittlerweile auch an der Welthandelskampagne auf dem Trafalgar Square teilgenommen, gleichwohl unterstützt die ganze Band dieses Anliegen. „Jeder in unserer Position hat eine gewisse Verantwortung“, erklärt Guy. „Auch wenn es uns manchmal merkwürdig vorkommt, achten viele Menschen sehr darauf, was wir sagen. Sie sehen uns im Fernsehen, kaufen unsere Platten und lesen, was da so auf dem Cover steht – das ist eine riesige Plattform. Man kann die Menschen auf bestimmte Dinge aufmerksam machen. Es ist keine große Anstrengung für uns, aber wenn etwas Menschen helfen kann, wollen wir das gerne tun.“
Trotz eines Songtitels wie „Politik“ tendieren die Songs von Coldplay schlussendlich zum Privaten. „Wir haben dieses Album in dem Gefühl gemacht, dass jeder Tag der letzte sein könnte, und wir haben das Maximum heraus geholt. Wir versuchen, das Beste aus unseren Möglichkeiten zu machen, von denen wir manchmal noch immer nicht glauben können, dass wir sie bekommen haben. Das gilt für die Band, aber auch für unser Leben generell. Und in den Songs geht es wie im Leben natürlich auch um Mädchen. Dreht sich da nicht letztlich alles drum?“ Und bei der Begegnung mit dem anderen Geschlecht kann es einem bekanntlich schon mal die Schamesröte ins Gesicht treiben: „A Rush Of Blood To The Head“ – definitiv Pflichtprogramm für die romantischen Momente im Leben.
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